Zukunftsvision
für den Öffentlichen Verkehr
Sozial verträglich, ökologisch tragbar und flächendeckend
von Hermann Knoflacher
„Wer Visionen hat,
gehört zum Arzt“ sagte
einst Bundeskanzler
Vranitzky. Man kann aber
auch behaupten:„Wer
keine Visionen mehr hat,
ist vermutlich hirntot“.
Weil Visionen im
Öffentlichen Verkehr
(ÖV) im vergangenen
Jahrhundert fehlten,
wurden Visionen des
Autoverkehrs, die früher
unvorstellbar gewesen
wären, realisiert und,
weil beide in
Wechselbeziehung stehen,
der ÖV teilweise oder
ganz zurückgedrängt.
Dass jede Familie ein
oder mehrere Autos
besitzen würde, war in
den Fünfziger-Jahren des
letzten Jahrhunderts
eine Vision, die weit
außerhalb jeder Realität
zu liegen schien, ebenso
wie heute die
Vorstellung, dass es in
50 Jahren noch genauso
aussehen wird wie jetzt.
Für alle, die sich mit
Energie und der
Zukunftsentwicklung auch
nur am Rande
beschäftigen, ist eine
lineare Fortsetzung
undenkbar. Das Leben mit
einem Verkehrssystem
jenseits aller
Prinzipien der
Evolution, das für den
Weg mehr Energie
aufwendet als der Zweck
bringt, wird mit der
Verfügbarkeit billiger
fossiler Energie zu Ende
gehen. Auch das
technische
Verkehrssystem wird
wieder auf den Boden
evolutionärer Realität,
nämlich minimalen
Energieaufwandes,
maximaler Effizienz,
sozialer und
ökologischer
Verträglichkeit,
zurückgeführt werden, ob
es uns passt oder nicht.
In der Evolution
verschwindet alles, was
ineffizient ist. Das
Auto als
Massenverkehrsmittel wie
heute gehört zu dieser
„Spezies“ mit
Ablaufdatum.
Aber auch das Phänomen
der hohen
Geschwindigkeiten, die
von sachunkundigen
Experten im ÖV für
wesentlich gehalten
werden, wird als
Massenerscheinung nicht
Bestand haben. Bei
realistischer
Betrachtung gehören
viele Visionen des
ausgehenden 19.
Jahrhunderts zum ÖV, die
auf immer schnelleren
physischen Transport
setzen, wohl endgültig
der Vergangenheit an.
Fehlende Intelligenz im
System lässt sich durch
immer größere
Geschwindigkeit nicht
beliebig kompensieren.
Was man sich dabei
eingehandelt hat, ist
bekannt: immer größere
Defizite im gesamten
Verkehrssektor, Umwelt-
und Sozialprobleme,
Verlust der lokalen
Arbeitsplätze, soziale
Isolierung, Fehler der
Raumplanung und des
Städtebaues. Immobilien
abseits der
Einzugsbereiche der
Haltestellen des ÖV
werden nicht nur in den
USA massiv an Wert
verlieren.
Will man realistische
Zukunftsvisionen für den
ÖV entwickeln, dann ist
dieser – da er
hinsichtlich
spezifischen
Energieaufwands und
Flächenverbrauchs dem
Auto um mindestens eine
Zehnerpotenz überlegen
ist und sozial
verträgliches Verhalten
fördert – nur dann
konkurrenzfähig, wenn
dies auch Stadt-,
Regional- und Raumplaner
begreifen und keine
weiteren Strukturen
abseits der fußläufigen
Einzugsbereiche von
Haltestellen des ÖV
entstehen lassen.
Chancengleichheit
zwischen Auto und ÖV –
eine wichtige
Übergangslösung für ein
„soft landing“ nach Peak
Oil – ist notwendig:
baulich, finanziell und
organisatorisch. Parken
bei den einzelnen
Objekten darf nicht mehr
möglich sein; die
Fahrzeuge sind in
mindestens gleicher
Entfernung zu allen
menschlichen Aktivitäten
abzustellen wie die
Haltestellen des ÖV. Das
Verursacherprinzip ist
finanziell konsequent
umzusetzen. Wer zu Hause
parkt, zahlt mehr; wer
sein Fahrzeug an der
richtigen Stelle
abstellt, entsprechend
weniger, und zwar
organisatorisch durch
eine Systemfinanzierung,
wo der Autoverkehr und
ÖV als eine Einheit in
den Finanzen zu
betrachten und
entsprechend ihrer
wesentlichen Indikatoren
kostenmäßig gerecht zu
behandeln sind. Abgaben
für den Mehraufwand des
Autoverkehrs sind für
die Erweiterung, den
Betrieb und die
Erhaltung des ÖV
einzusetzen, ohne
zusätzlich die
Öffentlichkeit zu
belasten.
Mangelnde Sachkenntnis
und fehlendes
Verständnis der Planer
und Betreiber haben in
der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts neben
den bereits bestehenden
Barrieren, die sich im
19. und der ersten
Hälfte des 20.
Jahrhunderts im ÖV
ergeben haben,
zahlreiche weitere
Barrieren für diesen
errichtet. Dazu gehören
unbesetzte Bahnhöfe
ebenso wie der
eingeschränkte
Gepäckstransport, Mängel
im Informationssystem,
schlechtes Wagendesign,
große Einstiegshöhen und
fehlender Komfort unter
dem Zwang von
Rationalisierung und
Gewinnstreben der
Betriebe in einer
aussichtslosen
Wettbewerbssituation.
Aufgrund der physischen
Indikatoren müsste bei
realistischer Bewertung
der ÖV billiger,
attraktiver und
komfortabler sein als
das Auto. Voraussetzung
dafür ist allerdings
eine realistische und
nicht lobbygetriebene
Verkehrspolitik. Es geht
um das Beste für den
Bürger und seine Zukunft
und nicht wie bisher um
Individualoptimierung.
Eine der größten
Barrieren im ÖV ist das
Tarifsystem. Eine
Zukunftsvision für den
ÖV ist die
unkomplizierte Benutzung
aller verfügbaren
öffentlichen
Verkehrsmittel zum
jeweils günstigsten
optimalen Tarif für die
Kunden über ein
berührungsloses System,
eine Bringschuld der
Betreiber. Damit
verbunden sind die
aktuellen Informationen
im ÖV zu liefern, um
Ungewissheit und
Unsicherheit zu
minimieren.
Scotty zeigt, dass dies
prinzipiell möglich ist,
nur müsste es
international –
zumindest in Europa –
zum selbstverständlichen
Angebot nicht nur
bezüglich der
Informationen, sondern
auch hinsichtlich der
Tarifabrechnung gemacht
werden. Dass der ÖV zu
Hause beginnt und an
irgendeinem Ziel abseits
der Linie des ÖV endet,
sollte für die Benutzer
in Zukunft kein Problem
mehr darstellen, sondern
integraler Bestandteil
einer über den ÖV
organisierten Reise
sein. Eine Vernetzung
der betrieblichen
Abläufe, wie sie heute
in der Schweiz im
Personenverkehr
weitgehend existiert,
wäre der Mindeststandard
in der Zukunft. Aktuelle
Informationen an jeder
Haltestelle des ÖV
sollen zum Standard
werden.
Da in einem realen
System nichts ohne
Störungen abläuft und
negative Erfahrungen
langfristige
Folgewirkungen zeigen,
ist die aktuelle
Information der Benutzer
in solchen Situationen
aktiv und passiv von
entscheidender
Bedeutung, denn nichts
ist so unangenehm wie
die Ungewissheit.
Beleuchtete Haltestellen
mit Wetterschutz,
Sitzgelegenheiten, ein
gutes Informationssystem
nicht nur für den ÖV,
sondern auch für die
Umgebung mit
wesentlichen
Ansprechpartnern war
bereits einmal Standard
bei den Bahnen, der
leider verkommen ist.
Dass Bahnhöfe besetzt,
wenn auch nicht immer
von Bahnpersonal,
sondern durchaus von
lokalen Tourismusbüros,
von der Gemeinde, von
Betreibern von
Restaurants oder
Cafehäusern, die auch
dem Kunden zur Verfügung
stehen, beweisen
Beispiele in Deutschland
und Südtirol. Dies ist
nur möglich, wenn es den
Gebietskörperschaften
bewusst gemacht wird,
dass der ÖV ein
wesentlicher Teil ihrer
eigenen
wirtschaftlichen,
politischen und sozialen
Organisation ist und
kein Fremdkörper, wie
dies heute noch vielfach
gesehen wird. Der
Bahnhof ist kein Objekt
der ÖBB, sondern ein
zentraler Punkt der
jeweiligen
Gebietskörperschaft des
Ortsteiles und ist auch
dementsprechend zu
behandeln
Mit zu einer
realistischen
Zukunftsvision gehört
aber auch die Forderung,
dass sich jene
Theoretiker und
Ideologen, die auf der
Ebene der EU-Kommission
tätig sind, nicht mehr
in Angelegenheiten des
lokalen, regionalen oder
nationalen ÖV einmischen
sollen, von dem sie –
wie es ja ihre
Aktivitäten zeigen –
keine Ahnung haben,
sondern vielfach nur
stören bzw. zerstören,
indem sie
Wunschvorstellungen
internationaler
Kapitalgruppen
durchzusetzen, die
versuchen, über die
Daseinsvorsorge der
Menschen aus dem ÖV
Kapitalgewinne für sich
ohne Rücksicht auf die
Folgen zu erzielen. Die
EU hat sich darauf zu
beschränken, dass sie
Qualitätsstandards und
Kriterien für die
grenzüberschreitenden
Verkehrsbeziehungen
festlegt und dafür
sorgt, dass die
Wettbewerbsverhältnisse
zwischen Auto und ÖV
fair gestaltet werden,
indem sie eine
Parkraumverordnung
erlässt, die Parkplatz
und Haltestelle gleich
behandelt, anstatt wie
bisher Wettbewerb unter
völlig ungleichen
Wettbewerbsbedingungen
für den ÖV zu verlangen.
Zukunftsvisionen für
Hochgeschwindigkeiten
entstammen aus der
frühpubertären Phase der
Entwicklung technischer
Verkehrsmittel. Wir
brauchen eine
Zukunftsvision für einen
sozial verträglichen,
ökologisch tragbaren,
flächendeckenden ÖV, der
sich unter diesen
Randbedingungen von
selbst wirtschaftlich
trägt.
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