Verkehrsberuhigung der Wiener Mariahilfer Straße ist beschlossen
Ein holpriger Weg zur Begegnungszone
von
Harald A. Jahn
Nach einer beispiellosen
Medien-„Schlacht“
entschieden die Bewohner
von zwei Bezirken über
Wiens seit Langem
umstrittenstes
Verkehrsprojekt – und
stellten mit hauchdünner
Mehrheit die Weichen für
zeitgemäße
Stadtgestaltung.
Titelbild:
Modellansicht
der
Begegnungszone „Mariahilfer
Straße“.
© Foto: b+b
orso.pitro/Stadt
Wien
Die neue Mariahilfer
Straße – das sind gerade
einmal 400 Meter
Fußgängerzone und zwei
längere Bereiche, auf
denen Passanten künftig
auf der Fahrbahn gehen
dürfen. Durch Sperre der
Querungen wird der
Durchzugsverkehr aus den
Schleichwegen durch die
Anrainerbezirke
herausgebracht. In einer
längeren Probephase
sollten die neuen
Verkehrsregelungen ohne
bauliche Änderungen
simuliert, eventuelle
Schwachstellen
korrigiert und danach
die Anrainer befragt
werden. Bei Zustimmung
sollte umgebaut werden.
Im Vorfeld wurden
Vertreter aller
Interessensgruppen
gehört und eingebunden:
Dies führte zu
großzügigen Regelungen
für den Lieferverkehr
(Zufahrt bis 13.00 Uhr),
auch wurden Taxis in der
Fußgängerzone gestattet.
Das wäre, nüchtern
umrissen, die lapidare
Beschreibung eines
Projekts, das seit
August 2013 die Stadt
spaltet wie kaum ein
anderes davor.
|
Paris, Berges de
Seine,
provisorische
Gestaltung der
früheren
Autostraße:
Gartenpavillons
und neue
Bepflanzung.
© Foto: Harald A. Jahn |
Meinungskrieg vor
Bürgerbefragung
Wie kam es dazu, dass
ein genau nach Plan
abgewickeltes Konzept in
einen regelrechten
Meinungskrieg ausartete,
ausgefochten über
Demonstrationen,
Zeitungsartikel, Social
Media, in denen Worte
wie „Chaos-Projekt“ oder
„Kampfradler“ den
Grundton dominierten?
Der Zugang der
Verkehrsstadträtin Maria
Vassilakou (Grüne) war
korrekt, aber gerade in
seiner Rationalität
naiv: So fanden sich
Autofahrer plötzlich in
einer Straße wieder,
deren Markierungen
entfernt, deren optisch
unveränderte, aber mit
Halteverbot belegte
Parkspuren
unverständlich waren;
der Straßenraum wies
keinen Unterschied
zwischen Fußgängerzone
und – neu für Wien –
„Begegnungszone“ auf.
Die nun leere
Mariahilfer Straße war
für die Autolobby
geradezu eine
Provokation. Bereits
wenige Tage nach der
sang- und klanglosen
Eröffnung wurde klar,
dass das auf der Straße
geschaffene Vakuum
Gegner aus allen Lagern
geradezu ansaugte. Die
Wiener Linien hatten für
den Betrieb der
wichtigen Buslinie 13A
schon im Vorfeld absurde
Sicherheitsmaßnahmen wie
Verkehrsampeln in der
Fußgängerzone und
zuletzt einen rot
markierten Fahrstreifen
und Absperrbügel
gefordert; nun weigerte
sich die Gewerkschaft
plötzlich, die
Fußgängerzone zu
befahren. Dass so eine
Weigerung nur mit
Duldung höchster Kreise
der SPÖ möglich war,
machte deutlich, dass
auch innerhalb der
rot-grünen Koalition
gegen das Projekt
intrigiert wurde.
In weiterer Folge
schossen sich die
auflagenstärksten
Zeitungen ebenso auf das
Projekt ein wie die
Opposition; überraschend
waren die Querschüsse
der Wirtschaftskammer,
die damit auf Kosten und
gegen die Interessen
ihrer Mitglieder agierte
– gerade der Handel ist
ja größter Profiteur
einer
fußgängerfreundlichen
Gestaltung. Dazu kamen
noch einige
Bürgerinitiativen, die
mit Social Media und
teilweise abstrusen
Argumenten
Negativstimmung machten.
Das Büro der Stadträtin
blieb bei alledem
passiv; die Mariahilfer
Straße wurde ihrem
Schicksal überlassen: Es
gab mit einer Ausnahme
weder Feste noch
irgendwelche Dekoration
und keine Versuche, den
Menschen die Vorteile
der neu gewonnenen
Freifläche
nahezubringen. Die
Gegner verpassten keine
Gelegenheit, das Projekt
zu torpedieren. Der 13A
wurde auf abenteuerliche
Umwegfahrten geschickt
und erhielt
schlussendlich eine
absurde Route, die
möglichst viele Anrainer
verärgert; Taxifahrer
ließen die Motoren ihrer
Fahrzeuge unter den
Wohnungsfenstern nachts
absichtlich laufen;
Bürgerinitiativen
verbreiteten Fotos der
leeren Mariahilfer
Straße und angeblich
riesiger Staus auf den
Ausweichrouten.
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Mariahilfer
Straße während
der
„Probephase“:
irritierende
Nichtgestaltung.
© Foto: Harald A. Jahn |
Die Bürgerbefragung:
Zittern bis zuletzt
Nachdem in den folgenden
Monaten jeder
Gruppierung medialer
Platz für ihre meist
negative Meinung geboten
worden war, kam es im
Februar endlich zur
Bürgerbefragung in den
beiden Anrainerbezirken
6 und 7. Abgefragt wurde
die grundsätzliche
Zustimmung zur
Verkehrsberuhigung; bei
der Entscheidung dafür
gab es noch Unterfragen
zur Beibehaltung des
Fahrradverkehrs in der
Fußgängerzone und der
Querungen. Zur
Überraschung vieler
hatte sich die Stimmung
in den letzten Wochen
aber gedreht; nach einer
Werbekampagne wie in
Vorwahlzeiten, bei der
die Grünen alles
irgendwie Mögliche an
Ressourcen bis hin zu
Hausbesuchen aufboten,
ergab die Befragung eine
hauchdünne Mehrheit für
die Beibehaltung der
Verkehrsberuhigung sowie
– als große Überraschung
– auch des Radverkehrs.
Darüber hinaus wurde für
die Öffnung von
Querungen gestimmt –
eigentlich widersinnig,
da gerade das
Unterbinden des
Durchzugsverkehrs die
Basis der
Verkehrsberuhigung ist.
Die Beteiligung war mit
68 % extrem hoch.
Was waren aber die
Gründe für diese enorme
Aufregung? Kurz gefasst:
Die Stadtplanung
argumentierte rein
rational und ließ die
Emotionen völlig außer
Acht. Jedes Produkt wird
über das Gefühl
verkauft; hier
unterblieb aber alles,
was die Menschen auf
dieser Ebene hätte
ansprechen können.
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Paris, Place de
la Republique,
Möblierung.
© Foto: Harald A. Jahn |
Ausländische Beispiele
ähnlicher Projekte
machen den Unterschied
deutlich: In New York
waren die bunten
Klappstühle und
gefärbten Bodenflächen
auf dem beruhigten Times
Square Stadtgespräch
(Zitat: „You can have
fun with paint!“); in
Freiburg/ Breisgau baute
man eine riesige
Sandkiste für Kinder und
stellte Tischchen auf,
die mittags von den
Mitarbeitern der
umliegenden Büros
gestürmt wurden; in
Paris wurde die
ehemalige Schnellstraße
an der Seine mit
Attraktionen aller Art
bespielt und die
umgestaltete Place de la
Republique mit Sesseln
und Tischen
ausgestattet.
Nichts von alledem
geschah in Wien, die
Mariahilfer Straße
suggeriert weiterhin
eine nun leere,
überbreite Autostraße.
Dazu kommt die Wiener
Lust an der
prinzipiellen Ablehnung
und Gehässigkeit; Maria
Vassilakou ist nicht nur
Frau, sondern auch noch
Verkehrsstadträtin und
von den Grünen,
obendrein Ausländerin,
sogar aus Griechenland!
Selten wurden die
Ressentiments der Wiener
Seele gegen alles
Fremde, alles Neue
besser bedient als bei
diesem Projekt. Der Stil
des Einbindens wurde
nicht als Dialog-Angebot
aufgefasst, sondern als
Schwäche; die bewusst
sparsame
Nicht-Gestaltung des
Provisoriums als
trotzdem zu teure
Pfuschlösung. Die an
sich überraschend gut
funktionierenden
Begegnungszonen wurden
lustvoll missverstanden.
Öffentlichkeitsarbeit
der Grünen war
monatelang keine
spürbar, erst in der
Schlussphase gab es
breiter gestreute
Information, wie die
Straße nach der
Umgestaltung aussehen
wird.
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Paris, Berges de
Seine: Cafés und
allerlei
Aktivitäten
animieren die
Besucher, die
ehemaligen
Fahrbahnen in
Besitz zu
nehmen.
© Foto: Harald A. Jahn |
Grenzen der
Bürgerbeteiligung
Wie geht es nun, nach
der Zustimmung der
Anrainer, weiter? Ab
Mitte Mai 2014 sollen
die Bauarbeiten im
zentralen Bereich
beginnen. Das derzeit
verlegte Material soll
teilweise für die
äußeren Bereiche
wiederverwendet werden,
die endgültige
Fertigstellung ist für
2015 vorgesehen. Die
Skeptiker haben sich
bereits formiert und
fordern von „Reset des
Projekts“
(Handelsverband) bis
„Nachverhandlung“ (ÖAMTC)
erneut noch
weitergehende
Zugeständnisse. Die
Einladung Vassilakous zu
einem Runden Tisch an
alle Parteien lässt
weitere Verwässerung
befürchten, schon wird
„Parken in der Nacht“
oder kurzes „Halten
erlaubt“ kolportiert.
Die Vorgehensweise mit
einer Probephase
erscheint im Nachhinein
insgesamt als
fragwürdig. Geschickter
wäre es wohl, ein
Projekt sorgfältig
auszuarbeiten, im
Vorfeld Konsens zu
erzielen und es dann
umzusetzen; es war
extrem riskant, ein so
wichtiges Projekt, das
für die breite
Bevölkerung im Vorfeld
kaum vorstellbar ist,
einer so auf die Spitze
getriebenen
„Bürgerbeteiligung“
auszusetzen, mit der
schlussendlich doch die
meisten nicht zufrieden
sind.
Unmittelbar nach
Bekanntwerden des
Bürgerentscheids kam es
übrigens zu zwei
überraschenden
Rücktritten: Die
Präsidentin der Wiener
Wirtschaftskammer, Frau
Jank, trat ebenso zurück
wie Renate Kaufmann,
langjährige
Bezirksvorsteherin des
6. Bezirks. Während Frau
Jank über Kammermedien
die Oppositionslinie der
ÖVP vertrat, was viele
Wirtschaftstreibende
irritierte, fühlte sich
Frau Kaufmann (SP) als
ursprüngliche
Initiatorin des Projekts
„Mariahilfer Straße“
wohl von den
Parteikollegen zu wenig
unterstützt. Sie war von
Anfang an Verfechterin
des Projekts, während
Thomas Blimlinger, der
Bezirksvorsteher des 7.
Bezirks (Grüne), als
Pragmatiker eher
skeptisch war. Insgesamt
zeigen die Vorfälle, wie
sehr die stark
fragmentierten
Kompetenzen und die im
Hintergrund arbeitenden
beharrenden Kräfte
gerade in Wien
zeitgemäße Stadtplanung
fast verunmöglichen.
Zum Autor:
Harald A. Jahn |
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Harald A. Jahn
ist Fotograf und Autor, beschäftigt sich mit Architektur,
Stadtplanung, Wirtschaft, Soziologie und Vernetzung.
Er betreibt die Bildagentur „Viennaslide“ mit
Schwerpunkt auf Reise- und Architekturfotografie.
Weiters ist er Betreiber der Website www.tramway.at und Autor des kürzlich erschienenen Buches „Die
Zukunft der Städte – Die französische Straßenbahn und die Wiedergeburt
des urbanen Raumes“. |
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