Regionaler Schienenverkehr
in und um Tokio
Nicht der Fahrgast steigt um,
sondern die Bahn wechselt das System
von
Mr. Isao Tsujimura (übersetzt von Manfred Vohla, RS-Redakteur)
Der Großraum Tokio beherbergt rund 50 Millionen Einwohner, die
auf ein gewachsenes, dichtes und ausgeklügeltes öffentliches Verkehrssystem
zugreifen können. Anders als in Österreich wird hier
aber nicht auf den Neubau von Strecken gesetzt, sondern auf die
optimierte Verknüpfung bestehender Linien, auch über scheinbare
Grenzen der Technik hinweg.
Das Streckennetz in und
um Tokio wird von JR
(bis 1987 Japanese
National Railways,
Japanische Staatsbahn,
danach privatisiert),
mehreren Privatbahnen,
U-Bahnen, Straßenbahnen
und vollautomatisierten
Verkehren (ATG,
Automated Guided
Transit) betrieben. Vor
ungefähr 100 Jahren
legte die damalige
Regierung im Rahmen
einer Verkehrsplanung
fest, dass die
Privatbahnen Strecken
außerhalb der
Yamanote-Ringlinie
betreiben, während
innerhalb der Ringlinie
Straßenbahnen verkehren
sollen (nach dem 2.
Weltkrieg wurden diese
fast vollständig durch
U-Bahnen ersetzt).
Die grundlegende
Entwicklungsstrategie
für diese privaten
Regionalbahnen im
Außenbereich sah seit
etwa 1960 vor, dass
diese an der
Yamanote-Ringlinie nicht
enden sollen, sondern
mit den U-Bahnen
durchgebunden werden, um
das Umsteigen an der
jeweiligen Endstation zu
vermeiden – und dies,
obwohl die technischen
Daten durchaus
unterschiedlich sind
(seltene Anwendungen in
Klammern):
In meinem Fall brauchte
ich bisher exakt eine
Stunde von Zuhause zum
Büro (Tür zu Tür) mit
einmaligem Umsteigen von
der Privatbahn auf die
U-Bahn. Seit 16. März
2013 benötige ich nur
noch 50 Minuten, weil
das Umsteigen in Shibuya
Station entfällt.
Mein Sohn begann im
April dieses Jahres zu
studieren. Seine
Universität ist weit von
Zuhause entfernt (mehr
als 1 ½ Stunden
Fahrzeit), aber es ist
kein Umsteigen durch den
nun durchgehenden
Zugbetrieb dreier Linien
(Tokyu – Metro – Seibu)
notwendig.
Derzeit sind in Tokio
keine neuen Bahnlinien
in Planung. Jedoch
werden die Optimierungen
an den
Verknüpfungspunkten
konsequent fortgesetzt
und die Bedingungen für
die Pendler in der
Hauptstadtregion Schritt
für Schritt verbessert.
Einsteigen
– mit Müh‘ und Not
Die Pünktlichkeit des
Bahnbetriebs in Japan
ist in der ganzen Welt
berühmt, einige wenige
Minuten Verspätung in
der Stoßzeit stellen die
Ausnahme dar. Aber warum
häufen sich die
Verspätungen stets
Anfang April?
Das neue Schuljahr
startet in Japan im
April. Dadurch fangen
viele Studenten und auch
Arbeitnehmer auf neuen
Routen zu pendeln an.
Und diese „noch nicht
fachkundigen“ Passagiere
verursachen Zugverspätungen.
Die Pünktlichkeit im
Bahnbetrieb ist eben
nicht nur von den
Bahnbetreibern
beeinflusst, sondern
auch vom Wissen und
Verhalten der Fahrgäste
abhängig.
Tokios Züge sind in der
Stoßzeit sehr überfüllt,
bis hin zu 200% ihrer
Kapazität. Wenn Sie nun
so einen Zug benutzen
möchten (natürlich haben
Sie es nicht eilig), wie
würden Sie vorgehen? Ich
denke, die meisten
Österreicher würden wohl
aufgeben. Ich möchte nun
meine Methode
vorstellen.
Als erstes stehe ich
rückwärtsgewandt zum
Eingang – die
Schuhabsätze sollen sich
gerade auf der
Führungsschiene der
Fahrzeugtüre befinden,
da auf dem eigentlichen
Fußboden kein Platz mehr
ist –, und ich stütze
mich an der oberen
Begrenzung der Türe ab.
Dann drücke ich leicht
die Person hinter mir –
sie wird mir ein
bisschen Platz auf dem
Fußboden für meine
Absätze einräumen. In
dem Moment, wenn sich
die Türen schließen,
drücke ich stark gegen
den Fahrgast hinter mir,
so dass ich mich
innerhalb der Türen
befinde. Dadurch
vergrößere ich weder die
Fahrgastwechselzeit des
Zuges noch bekomme ich
mit anderen Passagieren
Probleme.
Zu diesem Zeitpunkt soll
sich meine Standposition
nicht an einem der
beiden Türenden
befinden, weil die
Passagiere sich an den
Haltestangen bei den
Eingängen festhalten.
Auch soll ich mich auch
nicht in der Türmitte
aufhalten, weil dann die
schließenden Türen mich
selber oder meine
Aktentasche einklemmen
können. Dann benötige
ich jedoch Unterstützung
von der
Stationsmannschaft.
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Shibuya Station der Tokyu-Toyoko-Line (Spurweite 1.067 mm, Oberleitung 1.500 V) ist eine typische Endstation einer Privatbahn an der Yamanote-Ringlinie. Im März 2013 wurde diese Station in den Untergrund verlegt, um über die U-Bahn (Fukutoshin-Line) einen durchgebundenen Betrieb zu
zwei weiteren Privatbahnen (Tobu-Tojo-Line, Seibu-Ikebukuro-Line) zu ermöglichen.
©
Foto: Isao Tsujimura |
Technische Maßnahmen für
überfüllte Züge
Ich habe die Wiener
U-Bahn schon wiederholt
benutzt. Die Züge sind
gut konzipiert, aber sie
wären untauglich für den
Stoßzeit-Betrieb in
Tokio. Der kritische
Punkt ist das Schließen
der Türen. Diese können
in überfüllten Zügen
nicht effizient betätigt
werden. Alle japanischen
Triebzüge haben
Schiebetüren, und die
moderneren haben z. B.
eine intelligente
Zusatzfunktion, welche
die Schließkraft
unmittelbar nach dem
Schließen der Türen
reduziert, um einklemmte
Finger und Taschen
leichter entfernen zu
können.
Die meisten Züge sind
mit Triebfahrzeugführer
und Zugbegleiter
besetzt. Die Türen
werden vom Zugbegleiter
am Zugschluss betätigt.
Würde der Zugbegleiter
warten, bis alle ständig
nachströmenden Fahrgäste
eingestiegen sind,
könnte er nie die Türen
schließen.
Wenn er also die Türen
trotz Fahrgastwechsel
schließt und einzelne
Fahrgäste eingeklemmt
werden, dann betätigt er
den „Re-open“-Schalter,
der allerdings nur die
noch nicht vollständig
geschlossen Türen
freigibt. Dadurch wird
vermieden, dass bereits
komplett geschlossene
Türen nochmals geöffnet
werden.
Zudem werden neuerdings
aus Sicherheitsgründen
auch Bahnsteigtüren
(meist halbhohe
Bahnsteigsperren)
eingebaut, um Unfälle
mit Todesfolge zu
vermeiden. Aufgrund der
meist sehr alten
Bahnsteige müssen diese
verstärkt werden,
weshalb diese Umbauten
keine so rasche
Verbreitung finden. Als
Zwischenlösung werden
die Züge mit
Abdeckhauben in den
Kupplungsräumen zwischen
den Wagenkästen
ausgestattet.
Wenn Sie die Möglichkeit
haben, nach Tokio zu
kommen, dann benutzen
Sie bitte die
Pendlerzüge während der
morgendlichen Stoßzeit.
Da Sie nicht nur
technische
Besonderheiten, sondern
auch fachkundige
Fahrgäste vorfinden,
sollte es für Sie sehr
interessant sein.
Zum Autor:
Isao Tsujimura (Yokohama, Japan) |
Studium an der Waseda
Universität Tokio,
danach
Projekttätigkeiten als
Eisenbahn-Ingenieur an
elektrischen Systemen
von Triebzügen für ein
japanisches und ein
deutsch-stämmiges
Unternehmen;
internationale
Fachtätigkeiten für
elektro-pneumatische
Systeme von Triebzügen
bei der japanischen
Niederlassung eines
deutschen Unternehmens. |
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